Die Lage im Titelkampf
Wie schon in den Saisonen zuvor, zieht Red Bull Salzburg an der Spitze einsam seine Kreise. Und schafft es doch, die Spannung stets hochzuhalten, auch wenn die Entscheidung im Titelkampf bereits gefallen zu sein scheint. Wie zuletzt beim 2:1-Erfolg über Rapid, der durch ein erzwungenes Tor in der Nachspielzeit gesichert wurde. „Sie haben eine Top-Mischung: Junge Spieler machen permanent von unten Druck, niemand darf nachlassen, wenn er seinen Stammplatz behalten will. Dadurch müssen auch die Arrivierten stets an ihre Grenzen gehen“, erklärt Seidl. Dass selbst die 1:7-Niederlage gegen die Bayern dem Abo-Meister keinen Knacks verpasste, überrascht ihn nicht. „Sie sind Meister darin, die Dinge nüchtern zu analysieren und den Schalter umzulegen. Sie wissen, dass das Spiel in München anders gelaufen wäre, wenn sie zu Beginn ihre Chancen genutzt hätten.“ Einen Tipp hat er auch noch parat: „Gut wäre, wenn sie sich für die Endphase der Saison neue Ziele setzen würden. In jedem Match zu punkten beispielsweise oder ohne Niederlage durch die Meistergruppe zu kommen. So kann man die Spannung hochhalten.“
Der Fight um den Vizetitel
Deutlich spannender geht es beim Kampf um die Vize-Meisterschaft zu, die in dieser Saison gleichbedeutend mit einem Platz in der Champions-League-Quali ist. „Hier ist ganz entscheidend, wie Vereinsverantwortliche wie Präsident, Sportdirektor oder auch der Trainer das Thema nach außen kommunizieren“, sagt Seidl. „Spreche ich davon, Platz zwei erreichen zu müssen, erhöht das den Druck, die Spieler könnten verkrampfen. Spreche ich aber von wollen oder können, hat das eine positive Wirkung auf die Profis am Platz.“ Wobei klar ist, dass der Druck bei Mannschaften wie Sturm oder Rapid von Haus aus größer ist als beispielsweise bei Aufsteiger Klagenfurt, der sein Saisonziel Klassenerhalt bereits erreicht hat. „Druck löst messbaren Stress im Körper aus, die Kognitionen werden blockiert, sprich die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Die Muskeln verkrampfen und die Feinmotorik funktioniert nicht mehr optimal. Man sieht das bei Elfmetern, wenn selbst Spitzenfußballer, aufgrund einer veränderten Fußstellung, in entscheidenden Momenten nicht mehr treffen.“
Die Vermeidung von Platz 6
Der Modus sieht vor, dass der Sechste der Meistergruppe am Ende mit leeren Händen dasteht. Eine Konstellation, die ihre Tücken hat. Seidl: „Ich warne davor, Vermeidungsziele auszurufen. Wer ausgibt, auf gar keinen Fall Sechster werden zu wollen, läuft Gefahr, in eine selbsterfüllende Prophezeiung zu laufen. Besser ist zu sagen: Wir wollen mindestens Fünfter werden.“ In einer komfortablen Lage wähnt der Mental-Experte die Klagenfurter. „Sie können befreit drauf losspielen, haben in Wahrheit nichts zu verlieren. Das kann ungeahnte Kräfte freisetzen.“
Die Europacup-Chance in der Qualifikationsgruppe
Seidl ist großer Fan des Modus‘, der auch Mannschaften der Qualifikationsgruppe erlaubt, das Ziel Europacup-Quali auszugeben. „So können Teams wie der LASK, die ihr erstes Ziel verpasst haben, gleich wieder ein neues ausgeben und daran arbeiten.“ Aber auch hier gilt es, mit wohl überlegten Strategien zu arbeiten. „Ganz wichtig ist, sich realistische Ziele zu setzen. Es wäre kontraproduktiv, wenn Altach als Letzter sagen würde, dass sie jetzt unbedingt ins Conference-League-Play-off wollen.“ Ganz generell plädiert Seidl dafür, dass sich Teams im Match auf ihre Handlungsprozesse und ihre optimierten Abläufe fokussieren, anstatt auf Ergebnisse zu konzentrieren. „Ein Marcel Hirscher hat sich ja auch immer nur auf den nächsten Schwung konzentriert und nicht darauf, welches Ergebnis er nach der Zieldurchfahrt erreicht.“
Foto: Markus Steinacher
Der Druck im Abstiegskampf
Die wohl größte Herausforderung für alle Beteiligten, da in diesem Bereich auch Existenzen auf dem Spiel stehen. „Druck, Angst vor Fehlern, den Abstieg vor Augen – das ist eine Spirale, die sich rasend schnell nach unten drehen kann, vor allem für jüngere Profis“, weiß Seidl. Für den einzelnen Spieler ist es in dieser Situation wichtig, Achtsamkeit sich selbst gegenüber walten zu lassen. „Jeder sollte nach innen schauen und sich fragen: Bin ich verkrampft, angespannt? Sind meine Selbstgespräche zu negativ? Mittels einstudierter Selbstanweisungen können sich Spieler dann mit Sätzen wie ‚Entspann dich, bleib locker, vertrau auf deine Stärken, zieh dein Ding durch‘, selbst unterstützen.“ Mit speziellen Atemtechniken schaffen es die Profis, sowohl vor Spielbeginn als auch im Match, sich in einen optimalen Erregungszustand zu versetzen, in dem sie ihre optimale Leistung abrufen können.“
Allerdings, und das gilt generell für die Arbeit im psychologischen Bereich: Man sollte damit nicht anfangen, wenn es zu spät ist. „Oft höre ich, dass Vereine, die mit dem Rücken zur Wand stehen, einen Psychologen zu Rate ziehen. Der kann dann aber meist nicht mehr viel ausrichten. Um mentales Training sinnvoll einzusetzen, sollte man damit präventiv in der Saisonvorbereitung beginnen. Um dann, wenn es ernst wird, darauf zurückgreifen zu können.“
Ein fataler Fehler wäre es, weiß Seidl, dass sich Teams und Trainer im Abstiegskampf zu sehr in die Opferrolle zu begeben. „Wer wirklich glaubt, dass sich alles gegen einen verschwört, kann keinen Plan mehr umsetzen. Da braucht es Spieler, die von ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten überzeugt sind, die vorneweg marschieren und sagen: Wir haben es selbst in der Hand, uns aus der misslichen Lage zu befreien.“
Die Wichtigkeit von durchgespielten Szenarien
Um auf die meisten Eventualitäten vorbereitet zu sein, ist es wichtig, diese im Vorfeld im Kopf durchzuspielen und zu visualisieren, glaubt Seidl. „Eine Mannschaft, die als Underdog gegen Salzburg führt, muss wissen, wie sie mit dieser ungewöhnlichen Situation am Platz umgehen kann. Sonst droht sie, überfordert und kopflos zu werden.“ Umgekehrt sollte auch ein Team wie Salzburg im Kopf haben, was zu tun ist, wenn man mal kurz vor dem Schlusspfiff mit einem Tor hinten liegt. Auch wenn das äußerst selten vorkommt. „Das ist kein Argument“, insistiert Seidl. „Ein Pilot muss auch im Simulator üben, was er bei einem Triebwerksausfall zu tun hat. Selbst wenn es ihm bis dahin im Flugzeug noch nie passiert ist.“