Rekord-Schiri Lechner: „Es gibt kein Fingerspitzengefühl“

30. October 2023 in ADMIRAL Bundesliga

Am vergangenen Samstag löste Harald Lechner bei Salzburg gegen Altach Fritz Stuchlik als Rekord-Schiedsrichter der ADMIRAL Bundesliga ab. 236-mal kam der 41-Jährige, im Zivilberuf bei den ÖBB beschäftigt, in der höchsten Spielklasse zum Einsatz. Für bundesliga.at greift der neunmalige „Schiedsrichter des Jahres“ tief in die Kiste seiner Erinnerung und erzählt, welchen Mottos er folgt, warum Stuchlik für ihn ein Mentor war und warum ein Schiedsrichter niemals ein „fertiges Produkt“ ist.

 

Können Sie sich an Ihr erstes Spiel in der Bundesliga erinnern?

Klar, das war am 1. März 2008, Ried gegen Altach. Ich war zu diesem Zeitpunkt circa zwei Jahre in der 2. Liga tätig und habe dieses Match als Probespiel bekommen, um mich oben zu beweisen. Das zweite Spiel in der Saison war Altach gegen Salzburg. Im Sommer habe ich den Sanctus bekommen, dass ich in die 1. Bundesliga aufsteigen darf.

In Ihrem ersten Spiel haben Sie den Herren Drechsel und Glasner Gelb gezeigt. Wollten Sie sich gleich mit den Platzhirschen anlegen?

Ich kann mich erinnern, Glasner war ganz kurz vor Schluss. Es war ein stürmischer Tag, das Parallelspiel musste sogar abgesagt werden. Wenn ich heute zurückdenke: Ich habe 1998 meinen Schiri-Kurs absolviert und mein erstes Match überhaupt gepfiffen. Und zehn Jahre später stand ich in der obersten Liga Österreichs. Das Interessante ist: Wenn ich heute mein letztes Spiel leiten würde, würde ich immer noch Fehler machen. Das „Produkt Schiedsrichter“ ist nie fertig, du kannst dich immer verbessern, optimieren, entwickeln. Und du musst nach Niederlagen immer wieder aufstehen, auch wenn nach manchen Spielen das Karussell mit dir durchs Wohnzimmer fährt. Das ist nicht immer angenehm, aber doch faszinierend.

Kleines Gedankenspiel: Wenn Sie heute Schiedsrichter-Beobachter wären und den jungen Harald Lechner sehen würden – was würden Sie ihm sagen?

Damals hat schon noch sehr viel gefehlt. Ich war mental viel angespannter als heute, hab kleine taktische Fehler gemacht. Das Wichtigste ist, dass ich im Spiel schnell herausfinde, welche Linie ich heute an den Tag lege. Obwohl die Regeln immer die gleichen sind, ist es ein großer Unterschied, ob ich das Wiener Derby pfeife oder ein Match in der Qualifikationsrunde. Nur eines ist immer gleich: Du musst den „key player“ finden, das ist der Spieler, der innerhalb seiner Mannschaft den größten Einfluss auf seine Mitspieler hat. Wenn du den auf deine Seite ziehst, ergreift er vielleicht sogar innerhalb seines Teams Partei für dich.

Haben Sie sonst noch ein spezielles Motto?

Schon, eines lautet: Sei vorbereitet, aber nicht vorbelastet! Wenn ich weiß, dass es einen Spieler gibt, der zu Schwalben neigt, darf ich nicht vorbelastet sein und denken: Der fällt eh freiwillig hin. Aber ich muss wissen, wie ich sein mögliches Fehlverhalten am besten einschätzen kann. Das ist Teil der Vorbereitung. Dieses Motto gilt übrigens genauso im Privaten oder in der Wirtschaft.

Sie haben in Ihrer Karriere in der 1. Bundesliga 35 glatt rote Karten gezeigt, was ja die härteste persönliche Bestrafung darstellt. Hatten Sie manchmal Mitleid mit einem Spieler?

Ja, natürlich. Manchmal denkt man schon: Leider muss ich dich jetzt zum Duschen schicken. Aber es kann ja nicht sein, dass ich die Karte dann nicht gebe. Das Wichtigste bei einem guten Schiedsrichter ist seine Berechenbarkeit. Da gibt es auch kein Fingerspitzengefühl. Wenn ich das anwenden würde, würde ich ja das Regelwerk biegen und eine Mannschaft bevorzugen.

Sie wurden von 2014 bis 2022 neunmal nacheinander zum „Schiedsrichter des Jahres“ gewählt. Sticht da eine Saison besonders heraus?

Nein, weil jedes Spiel eine Herausforderung ist, unabhängig von der Spielklasse. Wichtig ist: Du musst proaktiv und präventiv agieren. Oft schreie ich am Spielfeld: „Lass die Hände weg, mach kein Foul!“ Dadurch erspare ich mir eine gelbe Karte. Mein Ziel ist ja nicht, am Ende des Spiels 14 Karten gezeigt zu haben, selbst wenn alle korrekt wären. Die Kunst ist, Sachen zu verhindern und im Keim zu ersticken, was im Stadion aber sonst keiner mitbekommt.

Sie lösten mit Ihrem Rekord-Spiel Fritz Stuchlik ab, eine Schiedsrichter-Legende. Der hat sein letztes Spiel im Dezember 2009 gepfiffen, Sie waren also kurz parallel in der Bundesliga tätig.

Ich war sogar mal sein 4. Mann, bei Kapfenberg gegen Mattersburg.

Was verbinden Sie mit Fritz Stuchlik?

Fritz war ein sehr strenger Schiedsrichter und sicher auch einer, zu dem ich am Anfang hochgeschaut habe. Er hat mir Tipps und Ratschläge gegeben. Du musst aber wissen: Du kannst dir zwar das eine oder andere, das zu dir passt, abschauen, aber nie einen Schiri kopieren. Es gibt zwei Menschen, die mich auf meinem Weg als Schiedsrichter geprägt haben: Der eine war mein Vater, der auch selbst Schiedsrichter war, der andere Fritz Stuchlik. Sie haben sich meiner angenommen und mir viel geholfen.

Stuchlik war bekannt für seine langen Nachspielzeiten. Da war er seiner Zeit anscheinend voraus…

Damit hatte er sicher nicht unrecht, auch wenn es manchmal unpopulär war. Man muss ohnehin immer zwischen der Person und dem Schiedsrichter unterscheiden. Sobald du die Uniform anhast, wirst du automatisch anders gesehen. Rufe von Zusehern gelten dir nicht persönlich, sondern deiner Funktion, die du in diesem Moment ausfüllst. Das muss man sich immer klarmachen.

Sie haben in Ihrer Karriere 61 Elfmeter gepfiffen. War der bei der Eröffnung der Linzer Raiffeisen Arena gegen Lustenau der bitterste?

Von den Elfmetern sicher! Da kam ja die Dramaturgie hinzu, dass es unentschieden stand, bei 3:0 hätte niemand mehr groß darüber geredet. Es gibt aber eine zweite Entscheidung, die mir persönlich noch mehr wehtut: das Foul an Eddie Gustafsson, für das ich nur Gelb gezeigt habe. Schon klar, die Karte hätte an der schweren Verletzung auch nichts geändert, aber es tat mir unglaublich leid für Eddie. Wie es der Zufall will, habe ich auch Eddies erstes Spiel nach seinem Comeback gepfiffen. Da kam er zu mir und meinte: Lechner, du hast keine Schuld. Eine tolle Geste! Trotzdem bleiben mir diese zwei Ereignisse negativ in Erinnerung. Ich finde es wichtig, die Courage zu haben, zu seinen Fehlern zu stehen. Was aber auch nicht heißt, dass ich mich für jeden Fehler entschuldigen muss, das macht in der Privatwirtschaft ja auch niemand. Aber wer sich aufs Glatteis begibt, muss damit rechnen auszurutschen.

Ernst Baumeister meinte kürzlich an dieser Stelle, dass es fast noch mehr Diskussionen über Entscheidungen gibt, seit der VAR im Einsatz ist. Überrascht Sie das?

Eigentlich nicht, weil er ja nicht überall eingreifen kann. Zum Beispiel bei einer gelb-roten Karte: Die hat die gleiche Auswirkung wie glatt rot, der VAR darf aber nicht eingreifen. Es wird immer einen Interpretationsspielraum geben, außer bei der kalibrierten Abseitslinie, die ist wirklich eine tolle Hilfe. Das ist aber kein speziell österreichisches Thema, sondern wird auf der ganzen Welt diskutiert.

Sehen Sie bei der Frage, wo der VAR eingreifen darf, Optimierungs-Potenzial?

Sie meinen zum Beispiel bei einem Freistoß 18 Meter vor dem Tor? Dann würde das Spiel noch mehr filetiert werden und noch länger dauern. Und dann müsste auch jeder Eckstoß zerlegt werden, da er ja zu einem Tor führen könnte. Was in die Köpfe hinein muss: Es ist absolut nichts Schlimmes, in die Review-Area zu gehen und seine eigene Entscheidung zu revidieren. Ich bin froh und dankbar, dass es ihn gibt und finde es toll, wenn man auf diese Art Fehler korrigieren kann.

Seit gut drei Monaten ist Viktor Kassai als Technical Director für die Schiedsrichter beim ÖFB im Amt. Weht seitdem ein frischer Wind?

Ja, natürlich, was aber keine Kritik an seinem Vorgänger sein soll, der ehrenamtlich tätig war. Es gibt eine Plattform, auf die jeder Schiedsrichter zugreifen kann und auf der 20 bis 30 Entscheidungen vom Wochenende analysiert werden, richtige wie falsche. Dazu die Entscheidung, die von der Schiedsrichter-Kommission erwartet wird. Da trifft es auch jeden Mal, wenn er daneben lag, aber das gehört dazu.

Zum Schluss eine ganz einfache Frage: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Hands-Regel ein für alle Mal so zu definieren, dass sie vernünftig nachvollzogen werden kann. Wie würde sie dann aussehen?

Puh, das ist schwierig…Wenn es um die Nachvollziehbarkeit geht, müsste man sagen: Sobald der Ball die Hand berührt, gibt es Elfmeter. Das entspricht aber nicht der natürlichen Bewegung eines Fußballers, deswegen bin ich dagegen. Daher gibt es den Interpretations-Spielraum der Absicht, der allein vom Schiedsrichter entschieden wird. Das ist der Punkt, der zu Diskussionen führt. Ich glaube, wir werden auch in Zukunft in dem Spannungsfeld sein, in dem wir jetzt gerade sind.

 

Fotos: Gepa pictures

Redakteur: Markus Geisler
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